Frauenleserin Rezension

„Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ von Katherine Dunn

Kommentare 5

Kurz

„Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ ist ein Buch, wie ich es in dieser Form noch nie gelesen habe. Obwohl ich es vor einigen Tagen beendet habe, klingt es noch immer nach.

Es verdient eine eigene Kategorie, denn es ist gleichzeitig Horror, Gesellschaftskritik und Familienroman – und auch gar nichts davon.

Die Geschichte entwickelt in ihrer Mischung aus Ekel, Geschwisterliebe und Rivaltät einen solchen Sog, dass ich das Buch am liebsten am Stück durchgelesen hätte.

Am Ende blieb ich atemlos, verwirrt, tief bewegt und nachdenklich zurück.

Bewertung: ♥♥♥♥♥ “Lieblingsbuch”

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Ausführlich

Worum geht es?

Der Zirkus „Binewski“ ist eine Art Familienbetrieb. Durch die Einnahme unterschiedlicher Mischungen aus Medikamenten, Drogen und radioaktiven Substanzen während der Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren der Babies gelang es Al und Lily Binewski, Kinder mit verschiedenen genetischen Mutationen zu zeugen, die das größte Kapitel ihres Zirkus darstellen. Da wären die Klavier spielenden siamesischen Zwillingsmädchen Iphy und Elly, Fortunato mit den telekinetischen Fähigkeiten und die Albinozwergin Oly, die dem Leser ihre Geschichte erzählt. Unangefochtener Star des Zirkus ist jedoch „Aquaboy“ Arty, der Flossen an Stelle von Armen und Beinen besitzt. Er ist eine Art Prediger. Von seinen Anhängern wird er als Guru und Heilbringer verehrt. Als Arty in Größenwahn verfällt, zieht er die gesamte Familie in einen mörderischen Strudel alptraumhafter Ereignisse.

Warum habe ich es gelesen?

Aufmerksam wurde ich auf das Buch zuerst durch das psychedelische Cover und den originellen Untertitel. Als ich las, dass „Geek Love“, wie das Buch mit Originaltitel heißt, bereits in den 90er Jahren im englischsprachigen Raum ein Bestseller war, wanderte es auf meine Wunschliste. Von seinem dortigen Monate langen Schattendasein befreite ich es aber erst, nachdem Alexandra von Read Pack, deren Buchgeschmack ich sehr schätze, es mir empfahl.

Wie war mein erster Eindruck?

Schon allein das Inhaltsverzeichnis zu lesen, mit dem das eBook beginnt, ist ein Fest. Andererseits kamen bei mir bei so großartigen Überschriften wie z.B.

„3. Jetztzeitnotiz: Kernschmelze, vom 13. Stock in Teetassen springen und andere reizvolle Erfahrungen“

oder

“3. Buch: Dein Drache – Pflege, Fütterung und Erkennen von Losung“

oder auch

„22. Gesicht frisst Nase, Lippen verschwinden“

auch leichte Bedenken auf, ob das Buch im nüchternen Zustand überhaupt lesbar sein würde. (Vorab zur Beruhigung: Das ist es.) Immerhin entstand so ein schlüssiger Gesamteindruck mit dem Buchuntertitel und dem Cover.

Wie fand ich das Buch insgesamt?

Es ist schwer, für „Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ die passenden Worte zu finden:

Ich könnte es als „brutal, boshaft, gewalttätig und verstörend“ beschreiben, aber es ist nicht so trivial wie ein reines Horrorbuch.

Auch könnte ich schreiben, Katherine Dunn beschäftigt sich in ihrem Debut damit, was Schönheit, Normalität und Perfektion wirklich ausmacht, und wie eine Person entweder zum Teil einer Gruppe oder zum Außenseiter wird. Aber es ist nicht so politisch korrekt und intellektuell wie die übichen gesellschaftskritischen Bücher.

Und ich könnte angeben, in „Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ wird der dramatische Untergang einer besonders skurrilen (Zirkus-)Familie erzählt, aber es ist keineswegs so klassisch wie eine Tragikomödie oder ein Familienroman.

Irgendwie ist es all das und doch gar nichts davon. Am ehesten muss man wohl sagen, „Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ ist eine Kategorie für sich. Ich jedenfalls habe bislang noch nichts Vergleichbares gelesen.

Eine Kategorie für sich sind auch die Charaktere des Buchs. Vor allem Albinozwergin Oly, die Erzählerin, hat es nicht leicht. Obwohl sie in einer Umgebung aufwächst, in der das Abnormale zur Regel geworden ist, gehört sie nicht richtig dazu. Ihre Mutation ist „zu normal“. Und so gehört sie weder irgendwo ganz dazu noch ist tatsächlich ausgeschlossen. Diese Perspektive ist sehr reizvoll. Sie ermöglicht gleichzeitig eine Innenansicht und eine gewissen Distanz.

Die Geschichte entwickelt einen solchen Sog, dass ich den eReader, einmal angefangen zu lesen, am liebsten gar nicht mehr aus der Hand gelegt hätte. Dabei kann ich allerdings nicht so genau sagen, ob es nun eher die Faszination des Ekels oder die Geschichte über Geschwisterliebe, -rivalität und den Kampf um die Anerkennung der Eltern war, die mich nicht los ließ. Es war wohl beides – und noch einiges mehr!

Dabei verfügt Katherine Dunn über ein perfektives Timing. Sie nimmt den Leser zuerst mit in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele und genau in dem Moment, als ich dachte, ich ertrage diesen Alptraum keine weitere Seite, setzt sie zum großen Finale an, dass – so viel sei hier verraten – auf mich genauso ambivalent wirkte, wie der restliche Roman und seine Figuren. Es ist die größtmögliche Tragödie, die Dunn uns am Ende reserviert. Dennoch war erleichert und dankbar, dass dieser Schreck endlich ein Ende hat.

Mich hat „Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ tief bewegt. Es berührt, nimmt mit, wühlt auf und strengt an. Auch lange nach der Lektüre hat mich dieses Buch beschäftigt – und tut es noch immer.

Wie fand ich die Sprache?

Es hat mehr als 20 Jahre gedauert, bis „Geek Love“ erstmals übersetzt wurde. Glaubt man dem Verlag, galt er lange Zeit als unübersetzbar. Ich bin geneigt, dem Glauben zu schenken.

Katherine Dunn schrieb 17 Jahre an diesem Roman; und das merkt man dem Werk deutlich an. Hier sitzt wirklich jedes Wort in einer besonderen sprachlichen Ausgewogenheit. Dabei ist es jedoch keineswegs eine künstliche oder poetische Sprache. Der Roman überraschte mich ganz im Gegenteil an einigen Stellen durch eine besondere Derbheit und sprachliche Brutalität. Aber immer passt die Wortwahl zu Situation und Anlass und lässt die Stimmung der Charaktere gut nachspüren.

Ich halte die Übersetzung für durchaus gelungen. Dennoch kann ich mir vorstellen, irgendwann auch das englische Original zu lesen.

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5 Kommentare

  1. Der Titel des Buches (der deutsche Titel, wohlgemerkt), ist mir schon öfters untergekommen und hat mich jetzt animiert, deine Rezension zu lesen. Tatsächlich kommt mir die Inhaltsangabe bekannt vor – ich glaube, ich hab’ schon mal etwas über das englische Original ‘Geek Love’ gelesen.
    Das hört sich alles kurios, bizarr, ‘anders’ an. Wie ein leicht schauderhafter Wanderzirkus. Daher auch spannend und neugierig machend. Herausfordernd.
    Danke für deine Eindrücke!

    Gruß,
    Ute

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