Diese Rezension sollte eigentlich gar keine werden. Jedenfalls keine im klassischen Sinne. Ursprünglich hatte ich vor, hier eine Liste mit den Szenen aus “Kim Jiyoung, geboren 1982” zu veröffentlichen, die mir selbst bzw. einer meiner Freundinnen so oder ähnlich selbst passiert sind. Denn soo lässt sich wohl am besten nachvollziehen lässt, weshalb das Buch in Korea so viel Zündstoff bot.
Zwölf Post-it-Zettel habe ich dazu in dem gerade einmal 208 Seiten dicken Buch verklebt. Und dabei hab ich den letzten Teil, in dem Kim Jiyoung Mutter wird, auslassen müssen! Als ich die Liste dann aber geschrieben hatte, verließ mich der Mut. Mein Problem war nicht, dass ich so viel von mir selbst damit erzählt hätte. Mein Problem war, dass ich damit meinen Schwiegereltern, einigen Kolleginnen, Verwandten und Bekannten auf die Füße getreten wäre. Ich hätte hier öffentlich geschrieben, dass sie mich mit bestimmten Aussagen verunsicherten, mit bestimmten Erwartungshaltungen wütend machten, mit bestimmten Handlungen verletzten, … Das war mir zu viel Konfliktpotenzial, denn in den betreffenden Situationen habe ich nie gezeigt, dass mir etwas nicht passte. Und deshalb gab ich meine ursprüngliche Idee für diesen Beitrag auf.
Erschreckenderweise – und deshalb rolle ich hier den gesamten Entstehungsprozess dieses Beitrags aus – gleiche ich auch damit Kim Jiyoung ziemlich gut. Auch sie will es allen recht machen und traut sich deswegen nicht, für sich selbst eine klare Position zu beziehen. Das ist ein Problem, das wohl viele – insbesondere Frauen – kennen. Von klein auf werden wir von der gesellschaftlichen Erwartung geprägt, allen zu gefallen. Das ist ein Drahtseilakt, der es erfordert, unablässig Widersprüchlichkeiten auszugleichen. Wer nicht aufpasst, verliert sich dabei schnell selbst; wenn sie denn jemals die Chance bekam, sich überhaupt zu finden.
Im Buch erkrankt Kim Jiyoung deswegen an einer Art Schizophrenie. Ihre zweite Persönlichkeit schlüpft in die Rolle ihrer Mutter und schafft so notwendig Distanz zu sich selbst, um ihrem Mann / Schwiegersohn zum ersten Mal sagen zu können, was sie frustriert, ärgert, wütend oder traurig macht. Dessen Diagnose ist wie zu erwarten schnell und eindeutig: Kim Jiyoung ist krank, “verrückt”. Also geht er mit ihr zu einem Psychiater, dem Kim Jiyoung aus ihrem Leben erzählt. Sie beschreibt alltägliche Szenen, in denen ihr – von den anderen (fast) unbemerkt -Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Machismus, Mobbing und Ungerechtigkeiten entgegenschlugen. In denen sie gegen Mauern männlicher Machtstrukturen lief.
Mich machte das Buch sehr betroffen, weil es zeigte, dass ich betroffen bin. Zusammen mit so gut wie jeder anderen Frau. Selbst dass Kim Jiyoung weit weg in Korea lebt, ändert nichts an der Allgemeingültigkeit vieler ihrer Erfahrungen. Zwar gibt es in Europa keine Ein-Kind-Politik, die Frauen zur Abtreibung weiblicher Föten bringt, um einen männlichen Stammhalter zu gebären. Vieles aber deckt sich mit erschreckender Genauigkeit, nicht nur mit meiner eigenen Erlebniswelt sondern mit der jeder Frau, die ich kenne. Und so habe ich mit ihr gelitten. War mit ihr wütend. Bin mit ihr resigniert. Hab mich mit ihr an gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen gerieben, ohne mich aus ihnen befreien zu können. Sie hat mir leid. Und manchmal tat auch ich mir leid.
Dieser Effekt war umso stärker, weil Nam-Joo Cho die tatsächliche Existenz all dieser kleinen und in der Summe doch so schwerwiegenden Ungerechtigkeiten, die Kim Jiyoung erlebt, durch wissenschaftliche Studien und Statistiken belegt. Kim Jiyoung ist nicht “empfindlich”. Sie ist nicht “hysterisch”. Sie Wir haben Recht und werden trotzdem viel zu selten ernst genommen, weil wir die Ungerechtigkeiten noch immer viel zu selten ansprechen.
Mit “Kim Jiyoung, geboren 1982” tut Nam-Joo Cho genau das. Und zwar in dem sie auf sehr unaufgeregte Weise das durchschnittliche Leben einer Durchschnittsfrau erzählt. Kim Jiyoung ist die koreanische Laura Müller. Sie trägt einen der häufigsten weiblichen Vornamen Koreas. Und sie lebt das Leben der meisten koreanischen Frauen. Und nicht nur dieser.
Wenn ich noch während des Lesens Personen im Kopf habe, denen ich es empfehlen möchte, weiß ich, dass ich ein Lieblingsbuch gefunden habe. “Kim Jiyoung, geboren 1982” ist so ein Buch. Aber im Gegensatz zu so vielen anderen, bei denen ich ganz bestimmte Personen im Kopf hatte, möchte ich “Kim Jiyoung, geboren 1982” ausnahmslos jedem empfehlen. Und manchen von ihnen möchte ich es am liebsten um die Ohren schlagen. Aber vielleicht ist die subtile Art, auf die Nam-Joo Cho in ihrem Buch auf Alltagssexismus hinweist, dann doch effektiver.