Frauenleserin Rezension

„Gestapelte Frauen“ von Patricia Melo

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50.000 Frauen wurden laut der Global Study on Homicide – Gender-related killing of women and girls (United Nations Office on Drugs and Crime, 2019) im Jahr 2018 weltweit von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet. Das sind 137 Frauen pro Tag. Betrachtet man die Femizidrate, also die Anzahl der Frauenmorde auf 100.000 Einwohner:innen, belegt der amerikanische Kontinent nach Afrika (3,1) den wenig ruhmreichen 2. Platz (1,6).

Betrachtet man sich die Zahlen für Lateinamerika genauer, stellt man fest, dass 14 Länder des Kontinents unter den 25 Länder mit den höchsten Femizidraten sind. Dies gilt auch für Brasilien, wo in den Jahren 2011 bis 2015 sechs Frauen pro 100.000 Einwohner:innen allein wegen ihres Geschlechts getötet wurden. Das sind acht Frauen pro Stunde. Feminismus ist hier mehr als der Kampf um gleiche Rechte. Er ist überlebenswichtig.

In “Gestapelte Frauen” füllt Patricia Melo diese Zahlen mit Leben und den persönlichen Geschichten der Opfer. Die Leserin begleitet eine junge Anwältin in den brasilianischen Bundesstaat Acre im Amazonasgebiet, wo sie Gerichtsverhandlungen zu Femiziden verfolgt, um sie später juristisch auszuwerten. Oder in ihren Worten:

“Meine Arbeit bestand darin, mich mit scharf geschliffenen Speeren aus Hass und endloser Dummheit herumzuschlagen. Wenn ich mich auf den Kopf stellte, würde ich ganze Arsenale von Nuklearwaffen und Stacheldraht erbrechen.” (Seite 14)

Ihre Arbeitsreise ist gleichzeitig auch eine Flucht vor den Problemen des eigenen Privatlebens. Eine Ohrfeige, die ihr besitzergreifender Freund ihr auf einer Party gab, lässt in ihr Erinnerungen an den Tod ihrer Mutter wach werden.

Der Roman ist ein Mix aus Krimi, Selbstfindungstrip, Beziehungs- und Justizroman. Mir war das ein bisschen zu viel für gerade einmal 256 Seiten, denn so richtig zündet letztlich keines dieser Genre.

Die Stärke von “Gestapelte Frauen” liegt in einem ganz anderen Bereich: mit den Femiziden spricht es ein noch immer viel zu sehr tabuisiertes Thema an. Patricia Melo zeigt wie korrupt die Medien und wie blind die Justiz diesbezüglich sind, während Täter im wahrsten Sinne des Worts über Leichen gehen, um einer Verurteilung zu entgehen. Und das Buch räumt mit dem Vorurteilen auf, dass häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen nur in sozialschwachen Umfeldern anzutreffen sind.

Patricia Melo lässt die Leserinnen aus verschiedenen Perspektiven auf die Gerichtsverhandlungen schauen. Man erfährt etwas über die Frustration der Staatsanwältin, das Leid der Angehörigen der Opfer und natürlich die Opfer selbst. Was „Gestapelte Frauen“ aber fehlt, ist die Täterperspektive. Hierdurch ist die Geschichte leider etwas eindimensional. Ich war ständig auf der Suche nach Gründen für die grausamen Taten, die in dem Roman zusammengetragen werden und den einzelnen Kapiteln in wenigen Sätzen vorangestellt sind. Aber lassen sich (Frauen-) Morde überhaupt befriedigend nachvollziehen?

“Selbst […] wenn ich um ihre Traumata, ihre Verlassenheit, ihre Verwundbarkeit wüsste, wenn ich eine Autopsie ihrer Psyche vornähme und ihren wirren oder krankhaften oder vorurteilsbeladenen Geist in einem Reagenzglas isolierte und mit eigenen Augen sähe, wo die Fähigkeit, auf den Abzug zu drücken, den Kopf einer Frau zu zersprengen, einer anderen den Hals umzudrehen, brutal das Leben beider auszulöschen, ihren Ausgangspunkt hat, würde […] der Tod aller sich in diesem Heft stapelnden Frauen nach wie vor keinen Sinn ergeben.“ (Seite 231)

Es ist ein interessanter Wandel, den die Ich-Erzählerin da vollzieht. Zu Beginn des Buchs ist sie noch ganz die sachlich-nüchterne und abgeklärte Anwältin, die ihr Inneres mit Stacheldraht gegen die Schicksale, den sie täglich beruflich begegnet, gerüstet hat. In Acre, am Rande des Regenwalds, an dieser Nahtstelle zwischen der modernen westlichen Kultur und der naturverbundenen Lebensweise der indigenen Bevölkerung findet sie schließlich Zugang zu ihrer metaphysischen Seite. Für ihre Studien nimmt sie Kontakt zur Familie eines indigenen Mordopfers auf. In spirituellen Riten, bei denen Ayahuasca, ein halluzinogener Trank, zur Bewusstseinserweiterung eingesetzt wird, erlebt sie die Einheit mit der Natur. Auf ihren Trips verarbeitet sie nicht nur all die grausamen Frauenmorde anstatt sie wie bisher schlicht zu verdrängen sondern auch den gewaltsamen und tragischen Tod ihrer eigenen Mutter.

Für mich waren ihre Visionen gewöhnungsbedürftig. Zudem halte es für problematisch, einen Drogenrausch als reinigende, psychisch heilende Erfahrung positiv darzustellen, auch wenn – wie in “Gestapelte Frauen” – auch die negativen körperlichen Folgen beschrieben werden.

Aber in dem sich „Gestapelte Frauen“ mit den Traditionen der indigenen Bevölkerung Brasiliens beschäftigt, macht es auch auf deren dramatische Lage aufmerksam. Patrica Melo zeigt die rassistische Ausgrenzung, die sie allerorts erfahren, und die Bedrohung ihres Zuhauses durch die Rodung des Regenwalds.

“Sich tagtäglich gegen die Gleichgültigkeit der Regierung zu behaupten, gegen die verbrecherischen Brandrodungen und die Überfälle illegaler Holzfirmen und des Agrobusiness, ist aufreibender Alltag der Völker des Jaguars, der Sonne, der Pfirsischpalme, der Buriti-Palme, der Kröte und so vieler anderer Völker Amazonen, die seit Jahrhunderten in der Gefahr leben, ausgelöscht zu werden.” (Seite 205)

Dabei bedarf es jedoch etwas Grundwissens über die politische Vergangenheit und die geografische Lage Acres, um wirklich alles verstehen zu können, was in “Gestapelte Frauen” problematisiert wird. Ich musste mir dieses Wissen erst anlesen und mir den gesamten Inhalt des Romans ein Stück weit erarbeiten.

Überhaupt war es kein Buch, das ich nach dem Lesen einfach weglegen und abhaken konnte. Auch wenn mir das Buch keine vollkommen neue Sichtweisen eröffnete, ist ein etwas unbequemes Buch mit ein paar Spitzen, die einen Nachklang besaßen.

♥♥♥ lesenswert

Gestapelte Frauen ♦ Patricia Melo (Barbara Mesquita) ♦ Unionsverlag ♦ ISBN: 978-3-293-00568-6 ♦ 256 Seiten ♦ Hardcover ♦ 22,- €

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