Als Bettina Wilpert im Jahr 2018 mit “Nichts, was uns passiert” debütierte, traf sie genau den Nerv der Zeit. Der Roman über eine Vergewaltigung und deren soziale und juristische Folgen war ein wichtiger Beitrag zur #meetoo-Diskussion. Selbstverständlich gibt es unzählige Bücher über Vergewaltigungen. Vor allem in der Spannungsliteratur wird das Thema gerne und häufig aufgegriffen. “Nichts, was uns passiert” verfolgt jedoch einen ganz anderen Ansatz. Bettina Wilpert spielt weder ein psychologisches Verwirrspiel noch präsentiert sie ein kriminologisches Puzzle. Nein, sie erzählt schlicht die Geschichte von Anna und Jonas. Eine Geschichte, wie sie täglich zig Mal geschieht.
Anna und Jonas kennen sich nur flüchtig, als sie sich zufällig in der Unibibliothek über den Weg laufen. Sie gehen ein paar Mal miteinander aus und haben ein oder zwei Mal – wenn auch keinen guten so doch zumindest einvernehmlichen – Sex. Und dann kommt da diese Party, bei der sich Anna so sehr betrinkt, dass sie einen Filmriss hat. Irgendwie landet sie mit Jonas im Bett. Eigentlich will sie diesmal keinen Sex. Sie sagt auch “Nein.” – glaubt sie im Nachhinein zumindest-, er hört es nicht – oder will es nicht hören(?). Zur aktiven Gegenwehr ist sie zu betrunken und so lässt sie es schlicht über sich ergehen.
Die Fakten sind klar und doch bleibt eine entscheidende Frage unbeantwortet: Was war es nun eigentlich? Nur schlechter, betrunkener Sex oder doch eine Vergewaltigung? War Anna selbst schuld, weil sie sich so stark betrank? Oder hätte Jonas die Situation der augenscheinlich hilflosen Anna nicht ausnutzen dürfen? Kann man Jonas überhaupt etwas vorwerfen? Schließlich hatte er selbst viel getrunken.
Bettina Wilpert beleuchtet das Thema sehr differenziert und vielschichtig. Sie zeigt nicht nur, wie sehr Anna unter dem Erlebnis leidet und zu zerbrechen droht. Sie zeigt auch, wie Jonas durch Annas Anzeige ins gesellschaftliche und berufliche Aus gerät. Der Freundes- und Bekanntenkreis ist gespalten. Ist es Rufmord oder ist vielleicht doch etwas dran? War es diese Lappalie wert, die vielversprechende Zukunft eines jungen und erfolgreichen Akademikers zu zerstören? Was zählt Annas Recht auf körperliche Selbstbestimmung? Übertreibt sie, ist gar hysterisch? Wer ist Täter*in, wer Opfer?
Der Prozess hilft Anna jedenfalls wenig. Sie hätte sich mehr wehren müssen, meinen die Richter. Anna fühlt sich unverstanden. Ohnmächtig.
Und auch ich blieb ratlos zurück. Selten haben mich nur knapp 170 Seiten auch nach der Lektüre noch so lange beschäftigt. Es ist gerade die Alltäglichkeit der Geschichte, die die von ihr aufgeworfenen Fragen so eindringlich werden lassen. Auch mit ein paar Wochen Abstand habe ich noch immer nicht alle für mich beantwortet.
Nur mit der nüchternen, an ein Protokoll erinnernden Erzählweise konnte ich mich nicht anfreunden. Bis zum Schluss bliebt unklar, wer erzählt und zu welchem Zweck. Vermutlich soll es unterstreichen, dass dieser fiktive Fall durchaus realistisch und schon gar kein Einzelfall ist. Das Fehlen jedes Spannungsbogens und jeder sprachlichen oder erzählerischen Finesse machten das Lesen etwas zäh.
♥♥♥ lesenswert
“Nichts, was uns passiert” gibt es auch als eBook.