Es gibt Bücher, die sprechen mich unmittelbar so sehr an, dass ich meine Begeisterung am liebsten sofort teilen möchte und noch während des Lesens überlege, wem meiner Bekannten ich es empfehlen könnte. „GRM. Brainfuck“ von Sibylle Berg ist so ein Buch. Und das obwohl ich es so lange Zeit mit Missachtung gestraft habe und um ein Haar gar nicht gelesen hätte.
Die Story des Romans ist dabei nur mäßig originell. Es ist eine Art Coming-of-age-Geschichte über vier jugendliche Ausreißer*innen. Von ihren Eltern vernachlässig oder verlassen steigen sie aus dem gesellschaftlichen System, das sie ohnehin nie wirklich gehörten, aus und begeben sich auf individuelle Rachefeldzüge, um die für ihre Misere schuldigen büßen zu lassen.
Wesentlich stärker als die Handlung sind aber das Setting und die Erzählweise, in dem Sibylle Berg diese präsentiert.
Zeitlich ist „GRM- Brainfuck“ in der unmittelbaren Zukunft – kurze Zeit nach dem Brexit – angesiedelt. Und die sieht in Sibylle Bergs Version gar nicht rosig aus: die Schere zwischen Arm und Reich ist größer denn je. Arbeits- und Perspektivlosigkeit münden bei einem Großteil der Bevölkerung in Resignation und Aggressionen. Prostitution, Raub und Dealerei florieren. Groß-Britannien ist zu einem Überwachungsstaat geworden, in dem jede*r Bürger*innen einen Chip implantiert bekommt und seinen gesamten Tagesablauf (freiwillig) mit einer Kamera-Brille aufzeichnet. Mit zusätzlicher Hilfe von öffentlichen Überwachungskameras und Drohnen sowie der Auswertung digitaler Daten erstellt der Staat vollständige Persönlichkeitsprofile aller Personen.
Diese nutzt Sibylle Berg auch zur Einführung der einzelnen Personen. Bei deren erster Erwähnung folgt steckbriefartig eine kurze Beschreibung. Dabei zeigt sich auch, wie intim die Details, durch digitale Überwachung ermittelt werden können, eigentlich sind. Die Bandbreite reicht vom Beruf über Krankheitsdaten, Süchte und politischer Einstellung bis hin zu sexuellen Vorlieben und „Aggressionspotenzialen“. Eine gruselige Vorstellung, die bei mir jedes Mal auf Widerstände stieß. (Was sicher auch daran lag, dass Sibylle Berg nur die schlechtesten, abstoßenden Seiten jedes Charakters nennt.)
Geschickt greift Sibylle Berg in „GRM. Brainfuck“ die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen und Trends wie das bedingungslose Grundeinkommen, die zunehmende Digitalisierung / Social Media, Neonationalismus, Fremdenfeindlichkeit und einiges mehr auf und entwirft daraus ein beklemmend realistisches Zukunftsbild. Auch feministische Themen wie etwa die Abtreibungsdebatte, weibliche Schönheitsideale und die Dominanz alter, weißer Männer in Politik und Wirtschaft werden angesprochen. Diese Vielschichtigkeit überraschte mich. Auch nachdem ich bereits weit über die Hälfte des Buchs gelesen hatte, stieß ich immer wieder auf neue Aspekte. Und auch dass sich Sibylle Berg nicht mit bissigen Kommentaren und sarkastischen Anmerkungen zurückhält, trägt sehr zum Unterhaltungswert des Romans bei.
Zudem hat die ungewöhnliche Erzählweise einen besonderen Reiz. Obwohl „GRM. Brainfuck“ aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, kommt Sibylle Berg ohne Kapiteleinteilungen aus. Dabei sind Personenwechsel meist sehr rasant und abrupt. Oftmals wechselt die Erzählung mitten im Satz nicht nur die Perspektive, sondern springt dabei auch zu einem vollkommen anderen Handlungsstrang.
Auch die Interpunktion und das Satzformat sind eigenwillig. Mitten in Sätzen setzt Sibylle Berg Punkte oder beginnt eine neue Zeile. Diese befremdlichen Satzgebilde lassen sich hierdurch auf mehrfache Weise verstehen.
Aber keine Sorge: der Roman ist kein bisschen anstrengend zu lesen,
sondern bleibt – obwohl durchaus nicht trivial – ein „Feierabendbuch“, d.h. auch nach einem Arbeitstag gut und flüssig lesbar. Ich hatte zudem großen Spaß an diesen sprachlichen Spielereien.
Überhaupt war „GRM. Brainfuck“ für mich insgesamt ein außergewöhnliches Lesevergnügen. Sibylle Berg hat damit erzählerisch etwas ganz Eigenes erschaffen. Für mich ist es sofort zum
♥♥♥♥♥ Lieblingsbuch
geworden.