Frauenleserin Rezension

“The Girl on the Train” von Paula Hawkins

Kommentare 6

Ich habe mich zum ersten Mal an ein englisches Hörbuch gewagt. Englischsprachige Bücher gelesen habe ich ja schon öfter. Das klappte auch immer ganz gut. Ein englisches Hörbuch ist aber noch einmal etwas anderes, finde ich, weil man mit den Dialekten der Sprecher zu Recht kommen muss. Bisher habe ich mich da daher nicht heran getraut.
Was nun den Ausschlag gab, es doch zu versuchen, kann ich Euch gar nicht sagen. Es war mehr so ein spontanes Ding. Nachdem ich soviel über „The Girl on the Train“ gelesen hatte, war ich zwar neugierig darauf geworden; blieb aber wie bei allen Büchern, die zu sehr gelobt werden, skeptisch. Als englisches Hörbuch aber versprach es, eine nette Herausforderung zu werden.
Zu meinem Erstaunen ging es viel besser, als ich dachte. Auch die Story selbst konnte mich positiv überraschen.

Worum geht es?

Rachel pendelt täglich mit dem Zug aus einem Vorort nach London ins Büro. Ihr Zug hält jeden Tag an der gleichen Stelle. Aus Langeweile beobachtet sie aus dem Zugfenster die Bewohner einer kleinen Siedlung an der Bahnlinie. Fast scheint es ihr so, als würde sie die Menschen dort tatsächlich kennen. Wenn sie nur selbst in einer so heilen Welt leben könnte…
Eines Tages verschwindet eine Frau aus dieser Siedlung spurlos. Die Polizei scheint im Dunkeln zu tappen. Aber Rachel meint, nur wenige Tage zuvor etwas Schockierendes gesehen zu haben. So wird sie endlich ein Teil der Leben jener Menschen, die sie bislang nur auch der Ferne beobachtete.

Warum habe ich es gehört?

Wochenlang waren meine Timeline und die Blogs voll von „The Girl in the Train“. Bei mir löst das ja immer erst einmal Skepsis aus, wenn ein Buch überall präsent zu sein scheint und all zu sehr gelobt wird. Daher wollte ich es eigentlich gar nicht lesen. Irgendwie reizte mich die Grundidee dann aber doch. Schließlich bin ich auch Bahnpendlerin. Als ich dann bei Nina auf „Deer & Wolf“ las, dass es sich nicht um einen klassischen Thriller handelt , siegte die Neugier.

Für das englische Hörbuch habe ich mich entschieden, weil ich mir hiervon einen zusätzlichen Reiz versprach. So wäre die Zeit, selbst wenn mir die Geschichte selbst nicht gefiele, nicht ganz verschwendet.

Wie war mein erster Eindruck?

„The Girl on the Train“ war mein erstes englisches Hörbuch. Englischsprachige Bücher lese ich zwar öfter; an einen gesprochenen englischen Text traute ich mich bislang jedoch nicht heran, weil ich dies doch noch etwas anspruchsvoller finde.

Die ersten Minuten des Hörbuchs bestätigen mich dann auch prompt in dieser Meinung. Die Sprecherin von Rachel hat einen starken britischen Akzent. In den ersten Minuten verstand ich so gut wie gar nichts. Nur langsam gewöhnte ich mich an den Dialekt der Sprecherin. Hörbuch hören neben dem Kochen oder dem Putzen, wie ich es sonst immer mache, ging so nicht. Meine Verständnisprobleme nahmen jedoch schnell ab, bis ich schließlich auch nach längeren Pausen problemlos sofort wieder in die Sprache fand. Nachdem ich mich so einmal darin gewöhnt hatte, war es das perfekte Hörbuch für längere Autofahrten.

Wie fand ich die Sprache?

Paula Hawkins verwendet in „The Girl on the Train“ eine auch für nicht muttersprachlicher leicht verständliche Sprache. Sie lässt drei verschiedene Frauen aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen. Es ist also keine Schriftsprache, die in „The Girl on the Train“ zu hören kommt. Paula Hawkins verwendet vielmehr durchgehend Alltagssprache, der Zuhörer auf mittlerem Sprachniveau, wie ich es bin, gut folgen können. Auch passt hier die Form des Hörbuchs natürlich besonders gut, weil sie den Eindruck verstärkt, dass man tatsächlich den Schilderungen drei Frauen lauscht.

Wie fand ich die Charaktere?

Girl on the TrainPaula Hawkins zeichnet in „The Girl on the Train“ sehr vielschichtige, glaubwürdige Charaktere.
Zunächst erscheinen sie alle noch ganz „normal“ und vollkommen durchschnittlich. Sie sind glückliche junge Familien und erfolgreiche Karrierefrauen. Aber mehr der Zuhörer von ihnen erfährt und je tiefer er oder sie mit ihnen in die Geschichte vordringt, umso mehr wird klar, dass nichts so ist, wie es nach außen scheint.

Sie alle haben ihre Laster, Geheimnisse und dunklen Seiten, die dem Zuhörer häppchenweise serviert werden. Dabei ist eine sehr subtile stetige Steigerung erkennbar, die eine regelrechte Sogwirkung entfaltet. Sind es anfangs nur kleinere Laster wie Alkoholismus und außerehelicher Sex. Tun sich später wahre Abgründe auf, die mich mehr als einmal erschaudern ließen.

Dabei bewegt sich Paula Hawkins jedoch stets innerhalb gewisser Grenzen, die alle dunklen Offenbarungen durchaus realistisch erscheinen lassen. So hält das Grauen langsam, subtil und doch stetig Einzug in den Alltag der Protagonisten.

Am Ende entstehen so komplexe Charaktere, bei denen die sonst üblichen Kategorien „gut“ und „böse“ vollkommen aufgehoben scheinen. Diese gekonnte Charakterzeichnung ist für mich das eigentliche Highlight dieses Hörbuchs und machte für mich dessen besonderen Reiz aus.

Wie fand ich die Sprecher?

In „The Girl on the Train“ lässt Paula Hawkins drei verschiedene Frauen zu Wort kommen. Dass die Passagen von drei verschiedenen Sprecherinnen gelesen werden, gefiel mir gut. Dies trägt wesentlich zu einer dichten, glaubhaften Atmosphäre bei. Durch die unterschiedlichen Stimmfarben der Sprecherinnen wusste ich stets, wer gerade erzählte. Dennoch verstand ich sie unterschiedlich gut. Eine der Sprecherinnen ist relativ leise und nuschelt etwas. Dies passt zwar gut zur Figur, machte mir das Zuhören aber manchmal etwas schwerer.

Wie fand ich das Hörbuch insgesamt?

Mit „The Girl on the Train“ legt Paula Hawkins einen verstörend realistischen Roman darüber vor, wie wenig wir eigentlich über die Menschen, die wir zu kennen glauben, tatsächlich wissen. Es geht um Alkoholismus, Seitensprünge, unverarbeitete Trauer und Schuld.

Ganz langsam und äußerst subtil zeigt Paula Hawkins dem Zuhörer all die schmutzigen, dunklen Geheimnisse, die aus einer Bilderbuchfamilie oder einem Vorzeigepaar plötzlich höchst bemitleidenswerte, triebgesteuerte und selbstsüchtige Individuen machen. Mir standen beim Hören mehr als einmal die Haare zu Berge angesichts der Enthüllungen von scheinbar braven Bürgern von nebenan. Gerade dass die Figuren am Anfang alle so vollkommen „normal“ und durchschnittlich erscheinen, macht deren spätere Demaskierung zu einem besonderen Nervenkitzel.

In „The Girl on the Train“ ist wirklich niemand das, was er oder sie zunächst vorgibt zu sein. Paula Hawkins beherrscht das Verwirrspiel mit dem Hörer sehr überzeugend. Sie zeichnet realistische Figuren, die erst auf den zweiten und dritten Blick ihr wahres Ich zu erkennen geben. Dabei ist eine konstante Steigerung zu erkennen, so dass ich mich etwa in der Mitte des Buches fragte, was denn nun noch alles kommen wird.

Das beängstigende an „The Girl on the Train“ ist jedoch Paula Hawkins Überzeugungskraft. Trotz aller der psychischen und menschlichen Abgründe, die sie dem Hörer präsentiert, wirken die Figuren nie überzeichnet und bleiben absolut realistisch. So fragt man sich während des Hörens fast unweigerlich, wie viel man eigentlich tatsächlich über seine Nachbarn oder den eigenen Partner weiß.

Das Buch spielt sich fast vollständig auf der psychischen Ebene ab und kommt nahezu ohne plumpe Effekthascherei und besonders blutige und grausame Szenen aus. Trotzdem weiß „The Girl on the Train“ zu überraschen und sorgte bei mir für echte Gänsehautmomente. Im Mittelteil jedoch gab es einige Länge, bei denen die Handlung auf der Stelle zu treten schien und ich einige Dinge gerne beschleunigt hätte. Dennoch bietet es feinen Nervenkitzel, eine solide Kriminalgeschichte und gute Unterhaltung.

Bewertung: ♥♥♥♥ Hörbuchtipp!


Titel: The Girl on the Train ♦ Autorin: Paula Hawkins ♦ Format: Hörbuch-Download ♦ Verlag: Penguin Audio ♦ Umfang: ca. 11 Stunden ♦ Sprecherinnen: Clare Corbett, Louise Brealey, India Fisher ♦ ISBN: 978-1611763737

 

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6 Kommentare

  1. Henrik sagt am 26. August 2015

    Hallo Kerstin.

    Ich stelle fest, ich hab schon länger nicht mehr bei dir gelesen. Und ich stelle fest, was für ein unglaublicher Fehler das war. Ich liebe deine Rezensionsform und muss dir einfach mal ein Lob dalassen. Deine Formulieren beschreiben ziemlich genau deinen Eindruck und vermitteln mir, was du sagen möchtest.
    Ich kann mir von dir durchaus eine Schreibe von der Sprache abschneiden.

    Zur Rezension: Leider zieht es micht nicht ganz zum Buch, wirklich. Ich hab gefühl 5 positive Rezensionen gelesen und keine konnte mich überzeugen, das Buch genau deswegen zu lesen. Ich denke, ich warte da auf den Film.

    Danke dir, dass du mich erinnert hast.

    Ganz liebe Grüße von mir.
    Henrik

    • Kerstin Scheuer sagt am 26. August 2015

      Hallo Henrik,
      das ist aber lieb von Dir. Soviel Lob von einem alten Blogger-Hasen wie Dir freut mich sehr.
      Schade, dass Dir das Buch nicht zusagt. Aber die Geschmäcker sind verschieden.
      Alles Liebe.
      Kerstin

      • Henrik sagt am 26. August 2015

        Hallo Kerstin. 🙂

        Alter Blogger-Hase.. also, ich bin weniger als zwei Jahre beim Buchbloggen.. die anderen 2 1/2 Fotografie-/Motzblog zählen nicht wirklich. 😉 Aber das Lob war schon ernst gemeint.

        Leider gibt es Bücher, die mich inhaltlich dann doch mehr ansprachen. Das ist eben manchmal so.

        Liebe Grüße an dich.
        Henrik

  2. Moin,

    Bisher war ich resistent gegen dieses Buch, dass auch in meiner Timeline (sogar auf Kosmetikblogs…) so allgegenwärtig ist. Deine Beschreibung des Hörbuchs mit den unterschiedlichen Sprecherinnen hat mich nun aber doch neugierig gemacht.

    Viele Grüße,
    Ulrike

    • Kerstin Scheuer sagt am 28. August 2015

      Vielen Dank für das Feedback.
      Das freut mich sehr, dass jemanden überzeugen konnte. Schreib mir doch mal, wie Du es fandest. Das würde mich wirklich interessieren.

      Alles Liebe.
      Kerstin

  3. Na toll, jetzt wollte ich unter dieser Rezension deine Art sie zu schreiben loben, da hat der fiese Henrik mir schon alles weggenommen! 😀 Ich kann mich seinen Worten also nur anschließen und finde, dass du deine Eindrücke sehr gut verdeutlicht hast.
    Und Dank dieser ausführlichen Beschreibung der Wirkung dieses Buches, weiß ich endlich, dass ich mich wohl eher nicht an dieses Buch herantrauen werde. 😉 Es klingt nach einem guten, lesenswerten Buch, aber nichts für mein leicht besaitetes Gemüt.

    Liebe Grüße,
    Lauretta

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