Auf der Suche nach modernen Klassikern aus weiblicher Feder stößt man unwillkürlich auf “Wer die Nachtigall stört” von Harper Lee. Als 2015 die Urversion “Gehe hin, stelle einen Wächter” auftauchte, erlebte das Werk eine Art Renaissance. Und wie so oft bei gehypten Büchern habe ich es damals zwar gekauft, dann aber doch nicht gelesen. Die Überpräsenz schreckte mich ab. Erst jetzt – mit einigem Abstand – habe ich mich herangetraut.
Über “Wer die Nachtigall stört” gibt es eine Menge Spekulationen und Gerüchte. So soll der Roman stark autobiografisch sein. Vor allem in den lebhaften Beschreibungen einer Kindheit in den amerikanischen Südstaaten der 30er Jahre soll Harper Lee viele eigene Erlebnisse verarbeitet haben. Harper Lee selbst hat dies aber stets bestritten.
Andere behaupten, dass “Wer die Nachtigall stört” in Wahrheit aus der Feder von Truman Capote stamme. Hauptargument dieser Theorie ist, dass Harper Lee danach nie wieder etwas veröffentlichte. Und auch wenn diese Behauptung mittlerweile durch Briefe widerlegt werden konnte, ist zumindest Fakt, dass Truman Capote und Harper Lee in der gleichen Kleinstadt aufwuchsen und sich schon als Kinder kannten.
Aber egal, wie viel Wahrheit in diesen Gerüchten auch stecken mag; dem Gesamtwerk werden sie jedenfalls nicht gerecht. Tatsächlich beschreibt “Wer die Nachtigall stört” nämlich den Prozess, mit dem in die heile Welt der Kindheit langsam die Probleme und Konflikte der Erwachsenen einbrechen. Und so verfolgt Scout schließlich mit ungläubigem Staunen den Gerichtsprozess gegen den afroamerikanischen Farmarbeiter Tom Robinson, in dem ihr Vater als Pflichtverteidiger teilnimmt. Nicht nur für sie liegt auf der Hand, dass die Vorwürfe keine Substanz haben. Dass sowohl ihr Vater als auch sie und ihr Bruder massiv angefeindet werden, ist Scout ebenso unbegreiflich, wie Robinsons Verurteilung. Es ist gerade die kindlich-naive Perspektive von Scout, die der Leserin das ganze Ausmaß und die Irrationalität des Rassismus vor Augen führen. Sie ist nicht nur deshalb neutral, weil sie weder auf der Opfer- noch auf der Täterseite steht; als Kind steht sie auch außerhalb des Gesellschaftssystems mit all seinen ungeschriebenen Regeln, Zwängen und Abwägungen.
Problematisch wird die Erzählperspektive allerdings während der Prozessszenen, die den zweiten Teil des Romans dominieren. Scout folgt diesem nahezu mühelos, kennt die juristischen Regelungen und Fachausdrücke und durchschaut die Verteidigungsstrategie ihres Vaters. Hier wirkt sie deutlich erwachsener als man es von dem neunjährigen Mädchen, das sich den Rassismus der gesamten Kleinstadt so wenig erklären kann, erwarten würde.
Inhomogen wirkt “Wer die Nachtigall stört” auch im Hinblick auf den Handlungsstrang. Es fehlt das verbindende Element zwischen den Kindheitsszenen des ersten Teils und dem juristischen Prozessgeschehen im zweiten. Beides ist spannend und mit Dynamik erzählt. Es gelingt Harper Lee jedoch weder einen stimmigen Übergang noch einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen beidem zu finden. Auch wenn die Prozessereignisse Scouts kindliche Welt ebenso abrupt beenden wie den erste Teil des Romans, scheinen es doch zwei vollkommen unterschiedliche Geschichten mit jeweils ganz eigenen Erzählabsichten und -strukturen zu sein. Tatsächlich basiert der erste Teil von “Wer die Nachtigall stört” auf einigen Kurzgeschichten, die Harper Lee schließlich zu einer größeren Erzählung zusammenfasste. Dies merkt man dem ersten Teil des Romans auch deutlich an. Die Darstellungen wirken episodenhaft und relativ eigenständig. In ihnen deutet sich nichts an, was später von Bedeutung wird. Der zweite Teil schlägt demgegenüber einen deutlich größeren Bogen. Er ist breiter und komplexer angelegt; greift aber nicht auf Erlebnisse des ersten Teils zurück.
Ausgesprochen gut gefallen hat mir Scouts Vater Atticus, der Harper Lees eigenen Vater zum Vorbild gehabt haben soll. Er ist nur deshalb eine außergewöhnliche Vaterfigur, weil die Darstellung eines alleinerziehenden Vaters auch heute noch nur selten zu finden. Er hat auch einen ganz eignen, wenig autoritären Erziehungsstil. Seinen Kindern begegnet Atticus meist auf Augenhöhe. Er nimmt sie und ihre Sorgen ist und spricht mit ihnen wie mit Erwachsenen. Scout und ihr Bruder nennen ihn beim Vornamen. Das Verhältnis ist eher freundschaftlich und keine klassische Eltern-Kind-Beziehung. Vor allem Scout hat hierdurch die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Atticus zwingt sie nicht in die traditionelle Mädchenrolle der 30er Jahre. Dies versucht erst Scouts Tante, die während des Gerichtsprozesses bei ihnen einzieht. Atticus schont seine Kinder nicht, indem er negatives von ihnen fernhält. Vielmehr unterstützt er sie durch Ratschläge und Erklärungen dabei, die Welt mit all ihren Widersprüchen, ihrer Ungerechtigkeit und Brutalität kennenzulernen. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb Scout bisweilen so viel abgeklärter und verständiger wirkt und die Dinge viel besser durchschaut, als man das von einem Kind ihres Alters erwarten würde. Fast könnte man etwas Angst um Scout und ihren Bruder haben und befürchten, dass ihnen dadurch ein Stück Kindheit genommen wird. Wenn man sich aber die fantasievollen und manchmal recht wilden Spiele der beiden im ersten Teil von „Wer die Nachtigall stört“ anschaut, kommt schnell zu der Überzeugung, dass das mit Nichten der Fall ist.
Insgesamt hat mir „Wer die Nachtigall stört“ gut gefallen. Beide Teile für sich haben ihre eignen Reize. Die Darstellung des Prozessverlaufs im zweiten Teil des Romans empfand ich als deutlich dynamischer und spannender erzählt als die Kindheitserinnerungen im ersten. Es ist schade, dass Harper Lee beide Teile nicht stärker mit einander verband. Mir standen sie zu selbstständig nebeneinander. Den Beginn des zweiten Teils habe ich so als deutlichen Bruch wahrgenommen. Und auch im Charakter der Hauptprotagonistin und Erzählerin Scout habe ich ein paar kleinere Unstimmigkeiten wahrgenommen. Dafür findet sich in „Wer die Nachtigall stört“ eine ganz außergewöhnliche Vaterfigur, die mich begeistern konnte.
♥♥♥♥ lesenswert