In der Liste von international tätigen, bekannten Orchesterdirigentinnen des 20. und 21. Jahrhundert nennt Wikipedia mehr als 210 Frauen. Der weitüberwiegende Teil wirkte ab Ende des 20. Jahrhunderts. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es nur sehr wenigen Frauen in der Musikwelt beruflich aus dem männlichen Schatten zutreten. Eine von ihnen war Antonia Brico, deren Weg zum internationalen Erfolg Maria Peters in ihrem neuen Roman „Die Dirigentin“ beschreibt.
Antonia Brico lebte von 1902 bis 1989. In Rotterdam geboren wuchs sie in Oakland bei Pflegeeltern auf. Schon als Kind begann sie Klavier zu spielen. Später studierte sie Musik an der University of Califonia, bevor sie 1926 nach Hamburg ging, wo sie Schülerin des deutschen Dirigenten Karl Muck wurde, und (als einzige Frau) an der Staatlichen Musikschule in Berlin Dirigieren studierte. Ihr Dirigentinnendebüt gab sie 1930 mit den Berliner Philharmonikern. Anschließend war sie mehrere Jahre auf einer Konzerttour durch ganz Europa und feierte einige kleinere Erfolge. In den USA debütierte sie 1933. Wirklich bekannt wurde Antonia Brico aber schließlich erst 1934, als sie ein reines Frauenorchester, die New York Women`s Symphony, gründete.
Aus diesen Daten macht Maria Peters einen ebenso spannenden wie unterhaltsamen Roman. Die Erzählweise ist so lebendig, dass mir Antonia Brico schon nach wenigen Seiten wie eine gute Freundin erschien. Dies liegt nicht nur daran, dass häufig wörtliche Rede verwendet werden. Antonia Brico tritt zudem als Ich-Erzählerin auf. So kann die Leserin die Ereignisse unmittelbar durch ihre Augen erleben. Ergänzt wird diese Perspektive durch zwei weitere Ich-Erzähler:innen. Diese haben selbstverständlich ebenfalls keinen neutralen Blick auf die Dinge. Aber gerade das machte für mich den besonderen Reiz aus. Hinzu kommt, dass die Leserin hierdurch manchmal einen Wissensvorsprung gegenüber Antonia Brico erhält, was die Spannung natürlich erhöht.
Natürlich gibt es in „Die Dirigentin“ auch die unvermeidbare Liebesgeschichte, ohne die ein biografischer Roman über eine Frau nicht auszukommen scheint. Immerhin entspricht das Ende nicht dem üblichen Schema. (Mehr sei an dieser Stelle dazu nicht verraten. Ich will ja nicht spoilern.) Diese unerwartete Wendung hebt sich Maria Peters aber bis ganz zum Schluss auf. Man muss also schon sehr lange am Ball bleiben, um die Überraschung zu erleben; mir fiel das aber nicht sehr schwer.
Deutlich schablonenhafter fand ich da schon die Aschenbuttel-Geschichte, die Maria Peters aus Antonia Bricos Adoptivgeschichte macht und als Nebenerzählung einflicht. Dass diese dann auch noch mit der „klassischen“ Suche nach den leiblichen Eltern verbunden wird, bei der Antonia Brico schließlich auch noch die – selbstverständlich sehr tragischen – Hintergründe ihrer Adoption erfährt, war für mich zu viel des Guten.
Ebenso enttäuschend – und da muss ich leider doch etwas spoilern – fand ich da schon, dass letzten Endes ein Mann wesentlich dazu beitrug, dass Antonia Brico auch in den USA bekannt wurde. Auch wenn dies unbemerkt aus dem Hintergrund geschieht, schmälert es doch ihren Erfolg.
Insgesamt ließ mich der Eindruck nicht los, dass Maria Peters dem Wunsch, aus Antonia Bricos Leben ein spannendes Stück Unterhaltungsliteratur zu machen, an zu vielen Stelle die historische Genauigkeit opferte und Dinge ergänzte oder überzeichnete. Es ist jedenfalls schon auffallend viel Dramatik und Aufregung in der Version von Antonia Bricos Lebensgeschichte, die in „Die Dirigentin“ erzählt wird. Da ist es schade, dass Maria Peters (etwa in einem Nachwort) keine Auskunft darüber gibt, welche Romandetails ihrer Fantasie entspringen.