Für die Zeitschrift „Le Monde“ interviewt die Journalistin Annick Cojean regelmäßig bekannte Persönlichkeiten zu ihrem Berufs- und Lebensweg. „Was uns stark macht“ enthält insgesamt 21 dieser Interviews.
Einen festen Gesprächsfaden hat Annick Cojean nicht. Nur der Gesprächseinstieg ist immer der gleiche: Sie lässt ihre Interviewpartnerinnen den Satz „Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …“ vervollständigen – und hört einfach zu. Annick Cojean greift Stichworte auf und fragt interessiert nach Details. Hier und da lenkt sie das Gespräch mit einem sanften Impuls. Sich selbst nimmt sie dabei zurück. Sie drängt nicht und erzwingt nichts und ist trotzdem nicht neutral. Annick Cojean nennt es „die Kunst der Begegnung“. Das wertschätzende Zuhören hat etwas Entwaffnendes. Selbst wer zu Beginn eine eher skeptische Haltung einnahm und ausweichend antwortete, wagt sich schnell aus der Deckung. Allein diese Entwicklungen beobachten, macht „Was uns stark macht“ schon lesenswert.
Die Auswahl der Interviewten beschränkt sich auf „Was uns stark macht“ ausschließlich auf Frauen. In ihrem Vorwort schreibt Annick Cojean hierzu:
„Weil die Welt der Frauen eine besondere ist und ihr Weg ein Hindernislauf, der mich immer wieder fasziniert. Die hier versammelten Frauen haben sich in einer Welt behauptet, deren Regeln von Männern bestimmt werden. Sie haben in Männerdomänen gekämpft, die vorurteilsbehaftet gegenüber aufrechten Frauen sind. Etliche haben Gewalt erlitten. Alle haben ihr Haupt erhoben, die Zähne zusammengebissen, ihre Freiheit verteidigt. Stark haben sie sich ihren Weg gebahnt. Mit Träumen. Und Arbeit. Unglaublich viel Arbeit. Darauf sind sie am meisten stolz. Ihren Erfolg, ihre Karriere, ihren Einfluss haben sie nur sich selbst zu verdanken.“
Die Bandbreite ist dabei sehr groß. Unter ihren Interviewpartnerinnen sind Autorinnen, Schauspielerinnen, Musikerinnen, Sängerinnen, Designerinnen und eine Rabbinerin auf „Was uns stark macht“ vertreten. Auch vereint das Buch mehrere Generationen Feministinnen und zeigt die verschiedenen Formen und den zeitlichen Wandel der Themenschwerpunkte.
Durch Annick Cojeans Geschick entstehen sehr persönliche und berührende Gespräche. Es ist eine Art gemeinsame Spurensuche nach den individuellen Wendepunkten und Bruchstellen sowie den maßgeblichen Einflussfaktoren im Leben der interviewten Frauen. Dabei geht es nicht nur um die großen Themen wie die Kraft der Liebe und den Umgang mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit. Die Gespräche drehen sich auch um die Rolle der Eltern, den Einfluss der Erziehung und welche Erfahrungen die Interviewten mit männlichen Machtmechanismen machten. Sie erzählen, wie es ihnen gelang, bestehende Hürden zu überwinden, und wo sie an (persönliche) Grenzen stiegen.
Auffällig ist, dass viele der auf „Was uns stark macht“ versammelten Frauen zwei Dinge teilen: Über ihre Kindheit sagen viele, dass an ihnen „ein Junge verloren gegangen“ sei. Sie brachen also schon sehr früh aus der ihnen zugeschriebenen Geschlechterrolle aus, in der sie sich eingeengt fühlten. In ihrem Vorwort bezeichnet Annick Cojean diese Redewendung als „absurd sexistisch“. Für mich zeigt es schlicht, in welchem Geist die Frauen erzogen wurden und dass es ihnen – wie wohl den meisten – auch als erwachsene Frauen noch nicht ganz gelang, sie von diesen Denkmustern freizumachen.
Die erschreckende, zweite Gemeinsamkeit ist, dass viel der Frauen im Laufe ihres Lebens vergewaltigt wurden. Nachdem in den ersten sechs Interviews in dreien auch hierüber gesprochen wurde, habe ich angefangen, die entsprechenden Stellen zu markieren. Ich bin auf sieben gekommen. Bei 21 Interviews ist das jede Dritte! Etwas verblüfft war ich, dass darunter auch Juliette Greco und Claudia Cardinale sind, die einer Generation angehören, in der Vergewaltigung ein Tabuthema war. So berichtet etwa Claudia Cardinale, wie sie ihren durch eine Vergewaltigung gezeugten Sohn, zu Beginn ihrer Karriere verleugnen und verstecken musste. Schon der Umstand, dass sie als unverheiratete Frau Mutter war, hatte damals großes Skandalpotenzial. Und auch Brigit Bardot deutet an, dass die berühmte „Besetzungscouch“ tatsächlich existiert.
„Was uns stark macht“ zeigt durchweg kluge, eigensinnige und engagierte Frauen, die als Vorbild taugen. Es ist ein Buch, dass man immer wieder zur Hand nehmen und an einer beliebigen Stelle aufschlagen kann. Ich habe mir zahlreiche Stellen markiert, die mir in einer besonderen Weise gesprochen haben und mich zum Teil eine „Schwester im Geiste“ erkennen ließen.
„Es ist in allen Religionen dasselbe: Man beweihräuchert das Weibliche, um die Frau in der Rolle der Ehefrau und Mutter einsperren zu können. […] Die Frau wird auf ihre Gebärmutter reduziert.“
(Delphine Horvilleur, eine von drei Rabbinerinnen in Frankreich)
Schließlich hat „Was uns stark macht“ auch meine Leseliste gefüllt. Virginie Despentes, Patti Smith und Amelie Nothomb von einer privaten Seite kennenzulernen, weckte in mir große Neugier auf ihre Bücher. So ist von Virginie Despentes neben „Baise-moi“ nun auch „Die King Kong Theorie“ und „Das Leben des Vernon Subutex“ auf die Liste gewandert. Patti Smiths „Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft“ ist in der Prioritätenliste ein ganzes Stück nach oben gewandert und durch „M Train“ ergänzt worden. Nur bei Amelie Nothomb habe ich mich noch nicht für ein bestimmtes Buch entschieden. Ihr bisheriges Werk ist einfach riesig! (Falls du einen guten Tipp hast, schreib ihn mir gerne in die Kommentare.)
Überhaupt hat mich Virginie Despentes am nachhaltigsten beeindruckt. Nicht nur ihr sehr bewegter Lebenslauf (Alkoholsucht, Obdachlosigkeit, Prostitution, …) sondern auch ihre klare Sichtweise und ihre kompromisslose Haltung in Bezug auf patriarchale Strukturen sind bemerkenswert und versprechen ebenso radikale wie prozierende Bücher. Nur dass sie sagt, sie sei „lesbisch geworden“ und es wie eine bewusste Entscheidung darstellt, hat mich etwas irritiert. Aber auch solche kleinen geistigen Stolpersteine machen einen Teil des Reizes von „Was uns stark macht“ aus.
„Was uns stark macht“ ist ein Buch mit einer Menge Hoffnung, Kraft und Courage, auf das ich bestimmt noch einige Male zurückkommen werde.
♥♥♥♥ Buchtipp
Diese Rezension habe ich auf dem Blog “Karminrotes Lesezimmer” als Buch des Monats eingereicht. Dort findest du noch weitere spannende Bücher.
Eine tolle Rezension. Ich glaube ich muss dieses Buch auch haben.
Lieben Gruß
Andrea