Ich glaube, mir ist eine Rezension noch nie so schwer gefallen wie für “Schloss aus Glas”. Mehrmals habe ich damit begonnen und immer wieder habe ich meine Texte gelöscht. Nie wollte es mir gelingen, die ganze Bandbreite an Emotionen und Gedanken, die der autobiografische Roman bei mir auslöste, voll zu erfassen.
“Schloss aus Glas” hat mich – genau wie die Verfilmung – tief bewegt. Mir kommen bei einem Buch nur sehr selten die Tränen; bei “Schloss aus Glas” war dies der Fall. Dennoch ist es keine rührselige oder “traurige” Geschichte. Nicht nur und defintiv nicht in erster Linie, denn Jeanette Walls Kindheit, die sie in dem Roman beschreibt, war sehr glücklich. Sie war geprägt von scheinbar grenzenloser Freiheit und Abenteuern.
“Schloss aus Glas” ist die Geschichte einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung. Jeannette Walls beschreibt, wie tief sie von ihrem Vater enttäuscht wurde und wie sie schließlich komplett mit ihm bricht. Aber sie beschreibt auch, wie liebevoll, geduldig und fantasievoll ihr Vater mit ihr umging und wie er immer für sie da war – auf seine Art.
Und “Schloss aus Glas” ist die Geschichte eines außergewöhnlichen Lebens. Eines Lebensentwurfs jenseits der gesellschaftlichen Normen. Sich selbst zu verwirklichen und ausschließlich nach den eigenen Werten zu leben, klingt paradiesisch und das ist es zunächst auch. Aber die Familie führt dadurch auch ein Leben am Rand der Gesellschaft und in bitterer Armut. Und je älter die Kinder werden, umso mehr wird ihnen bewusst, wie anders sie sind.
“Schloss aus Glas” ist aber auch die tragische Geschichte eines gebrochenen Manns. Jeannettes Vater ist ein ideenreicher und intelligenter Mann. Ein Träumer und – ja – manchmal auch ein Fantast, der seinen Kindern ein Schloss aus Glas verspricht. Aber er ist auch spielsüchtig und schwerer Trinker, der schnell brutal wird. Man erahnt, was aus ihm hätte werden können, wenn er sich für einen anderen Weg entschieden hätte. Gleichzeitig fragt man sich aber auch, ob er jemals eine Chance hatte, sein Leben zu etwas besserem zu machen. Als Sohn armer Eltern, die zudem beide Alkoholiker sind, fällt es schwer, den Teufelskreis aus Armut, Sucht und Gewalt zu durchbrechen.
Jeannette Walls gelang es trotzdem. Daher rührt wohl auch ihre Verbitterung gegenüber dem Vater, der diese Energie nicht aufbringen konnte, für den sie gleichzeitig aber auch Verständnis aufbringt. Sie fühlt sich im Stich gelassen und weiß doch, dass er schlicht nicht anders konnte. Sie weiß, dass er nicht die nötige Kraft besaß, um sich zu befreien, wirft ihm diese Schicksalsergebenheit aber vor.
Diese Zerrissenheit zwischen Vorwürfen und Verständnis, zwischen grenzenloser Freiheit und Resignation, die sich gleichberechtigt nebeneinander wiederfinden, ist es, die mich so fertig machte. Beim Lesen und beim Schreiben einer Rezension. Denn Jeannette Walls gelingt es all diese unterschiedlichen, widerstreitenden Gefühle so authentisch und dabei ohne jede Effekthascherei zu beschreiben, dass man sich einfach mitfreuen, mitleiden und mitärgern muss.
♥♥♥♥♥ Lieblingsbuch
Genauso lesenswert und unglaublich ist “Ein ungezähmtes Leben” von Jeannette Walls über ihre Großmutter mütterlicherseits.