Frauenleserin Rezension

“Das Unglück anderer Leute” von Nele Pollatschek

Kommentare 1

Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass trotz aller guter Absichten und freudiger Erwartungen aus der vermeintlich besinnlichen Zeit des Jahres plötzlich ein handfester Familienstreit wird. Wenn man gleich mehrere Tage hintereinander mit den lieben Verwandten verbringt, werden aus kleinen Macken schnell ausgewachsene Probleme und man fragt sich „Wieso sind in meiner Familie eigentlich alle bekloppt?“ Wem über die Weihnachtsfeiertage genau diese Gedanken kamen, empfehle ich Das Unglück anderer Leute von Nele Pollatschek, nach dessen Lektüre – das garantiere ich – einem die eigene Familie plötzlich als die normalste der Welt vorkommt.

Worum geht es?

Thene ist Mitte 20, studiert in Oxford Literatur und verbringt die Semesterferien am liebsten bei ihrem Freund in Heidelberg, von wo aus sie gemeinsam in den Odenwald fahren, um den Tag auf Klappstühlen auf einer Waldlichtung zu verbringen. In dieser friedlichen Idylle gelingt es Thene, den nötigen Abstand von ihrer anstrengenden Patchwork-Familie zu finden. Nun aber steht die Abschlussfeier in Oxford an und natürlich sind ihre manipulative Mutter Astrid, die über ihren unermüdlichen Versuchen, die Welt zu retten, gerne die eigenen Kinder vergisst, ihr homosexueller Vater Georg, der, obwohl er Thene als Kind 5 Jahre im Stich ließ, im Grunde die bessere Mutter geworden wäre, und ihre jüdische, exhibitionistisch veranlagte Oma mit von der Partie. Das allein verspricht eigentlich schon Chaos genug. Dann aber stößt Astrid etwas Schreckliches zu und Thene wird plötzlich auch noch mit sämtlichen abgelegten Stiefvätern und ihrem pubertierenden Halbbruder Eli konfrontiert.

Titel: Das Unglück anderer Leute ♦ Autorin: Nele Pollatschek ♦ Verlag: Galiani Berlin ♦ Format: Hardcover mit Schutzumschlag ♦ Umfang: 224 Seiten ♦ ISBN: 978-3-86971-137-9 ♦ Preis: 18,99€

Wie fand ich…

…den Einstieg?

Ohne einleitende Worte oder auch nur eine Einführung der handelnden Figuren wirft Nele Pollatschek ihre Leser direkt mitten hinein in eine ebenso kurzweilige wie lebhafte Geschichte. Dies führte bei mir zunächst zu einer leichten Orientierungslosigkeit, die sich jedoch nach wenigen Seiten nicht einfach nur legte; das Mittendrin-Gefühl führte auch dazu, dass ich schnell Zugang zur Geschichte bekam.

…den Handlungsverlauf?

In Das Unglück anderer Leute erzählt Nele Pollatschek eine temporeiche, aberwitzige Geschichte voller (schwarzem) Humor und sarkastischer Untertöne, deren Handlungsverlauf nicht selten absurde Wege einschlägt. Neben all dem Witz und Unterhaltswert des Romans werden darin jedoch auch ernste Themen angesprochen. Was da auf den ersten Blick so heiter und leicht daher kommt, ist im Grunde eine Geschichte über den frühen Tod eines Elternteils, über problematische Eltern-Kind-Beziehungen und Verlustängste. Nele Pollatschek gelingt es, dass ich als Leserin gleichzeitig mit Thene mitgelitten und mich halb tot gelacht habe. Wie nah Lachen und Weinen manchmal doch beieinander liegen, zeigt Das Unglück anderer Leute mit Bravur und großem Unterhaltungswert.

…die Charaktere?

Bei der Figurenzeichnung beweist Nele Pollatschek eine feine Beobachtungsgabe. Anschaulich arbeitet sie die Besonderheiten der einzelnen Charaktere heraus, ohne dabei in lange Personen- und Charakterbeschreibungen zu verfallen.

Besonders interessant fand ich das zentrale Beziehungsgeflecht zwischen Thene, ihrem Vater Georg, Mutter Astrid, ihrem Halbbruder Eli und deren gemeinsamer Oma. Hier zeigt sich das ganz alltägliche, wahnwitzige Drama um Rabenmütter, Vaterpflichten und Familiensinn.

…den Schluss?

Am Ende entwickelte sich die Geschichte für meinen Geschmack etwas zu schnell. Nachdem zu Beginn von Das Unglück anderer Leute alles fein und genau ausgearbeitet wurde, quetscht Nele Pollatschek zum Schluss zu viele Ereignisse in zu wenige Kapitel. Mir drängte sich beim Lesen tatsächlich der Eindruck auf, als hätte die Autorin schnell fertig werden müssen.

Dass die Absurdität der gesamten Geschichte zum Schluss noch einmal in einem gnadenlos überspitzt gezeichneten Finale auf die Spitze getrieben wird, ist sicher Geschmackssache. Ich mochte es sehr gerne, hätte dem Schluss von Das Unglück anderer Leute aber noch 1 bis 2 Kapitel mehr gegönnt.

….die Sprache?

Nele Pollatschek erzählt sehr lebendig und nutzt viel wörtliche Rede. Durch die häufigen Dialoge und die Ich-Erzählform findet man schnell ins Buch und hat sofort das Gefühl, mittendrin zu sein.

Wie hoch ist der starke Frauen-Faktor?

Das Unglück anderer Leute wirft einen ebenso humorvollen wie klugen Blick auf das Beziehungsgeflecht dreier Frauengenerationen einer Familie.

Mit der 25jährigen Ich-Erzählerin Thene wird uns eine moderne, junge Frau präsentiert, die regelmäßig an den Kapriolen ihrer 68er Mutter Astrid verzweifelt. Ihre regelmäßigen Versuche, sich gegen die Gängeleien ihrer hochmanipulativen Mutter zu wehren, sind nur selten von Erfolg gekrönt. Besonders beeindruckt hat mich an Thene, dass sie nach dem dramatischen Unfall ihrer Mutter vollkommen selbstverständlich die Verantwortung für ihren pubertierenden Halbbruder übernimmt, obwohl sie das auch der gemeinsamen Großmutter oder Elis Vater überlassen könnte. Es ist Thene, die alles weitere organisiert und für eine Struktur in den nächsten Tagen sorgt.

Aber auch Mutter Astrid, die auf den ersten Blick reichlich schlecht weg kommt, weil sie ihre häufig wechselnden Partner ihren Kindern vorzieht und ein sehr manipulatives Verhalten zeigt, taugt in anderen Bereichen als Vorbild. So zeichnet sie sich beispielsweise durch einen großen Optimismus und viel Menschenvertrauen aus. Außerdem lässt sie sich nicht auf ihre Mutterrolle reduzieren, sondern lebt weiterhin ihre Sexualität voll aus. Ihre Kinder könnten darauf freilich manchmal verzichten.

Meine Lieblingsfrauenfigur aus Das Unglück anderer Leute ist aber Thenes Oma. Sie verhält sich so gar nicht stereotypisch, weshalb ich sie gleich ins Herz geschlossen habe. Ihre Tochter Astrid versteht sie genauso wenig wie es Thene tut. Regelmäßig verbrüdern sich die beiden gegen sie, kommen aber doch nicht gegen Astrid an. Als Jüdin dürfte sie es in jungen Jahren nicht leicht gehabt haben, dennoch ist sie kein bisschen verbittert. Vor allem über ihr natürliches Verhältnis zum eigenen Körper konnte ich nur staunen. In einer Szene erlebt man sie beim ungenierten Nacktsonnenbaden, obwohl mehrere Ex-Ehemänner und –Partner ihrer Tochter zu Besuch sind.

Wie fand ich das Buch insgesamt?

Das Unglück anderer Leute ist ein Roman, den ich gerne und zügig gelesen habe. Die Mischung aus ernsten Themen und tiefschwarzem Humor gefiel mir gut. So zeigt Nele Pollatschek, wie eng Freud und Leid doch nicht selten zusammenliegen.

Auch die Charakterzeichnungen sind gelungen. Hier beweist die Autorin eine genaue Beobachtungsgabe. Obwohl ihre Personenbeschreibung meist nur aus wenigen Sätzen bestehen, hatte ich stets eine sehr konkrete Vorstellung von ihnen.

Besonderen Spaß hatte ich den Frauenfiguren und den Konflikten und Spannungen, die zwischen ihnen bestehen. Auch diese werden so locker und humorvoll und dennoch mit einem gewissen traurig-melancholischen Tiefgang erzählt, dass ich gleichzeitig lachen und weinen wollte.

Auch das sehr pointierte und überspitzte Ende war im Grunde ganz nach meinem Geschmack, hätte aber etwas aufwendiger entwickelt werden können. Unterm Strich hat Das Unglück anderer Leute also nur einen wirklichen Schwachpunkt: es ist zu kurz.

Bewertung: ♥♥♥♥ Buchtipp

Dich interessiert, was ich in nächster Zeit plane?

In meinem monatlichen Newsletter halte ich dich zu meinen Lese- und Blogplänen auf dem laufenden.

Am besten trägst Du Dich gleich ein!

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

1 Kommentare

  1. Hi Kerstin,
    ich habe vor Weihnachten “Das Unglück anderer Leute” ausgelesen und jetzt nach Weihnachten an meiner Rezension gearbeitet. Dabei hatte ich den gleichen Gedanken wie du: Wer jetzt nach den Feiertage denkt, die eigene Familie ist doch wahnsinnig, der sollte unbedingt dieses Buch lesen. Ich habe es sehr, sehr gerne gelesen und fand auch das Ende gut. Das Tempo betont nochmal die Kettenreaktion.

    Frohes Neujahr und liebe Grüße
    Laura

Schreibe einen Kommentar zu Laura Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert